Zum Inhalt springen

Der Fortschritt von Künstlicher Intelligenz im Recruiting: Das 4-Level-Modell

Fachkräftemangel, Veränderung individueller Präferenzen, Relevanz neuer Arbeitsformen: Der HR-Markt befindet sich in einem einschneidenden Wandel. Angesichts zahlreicher Pull-Faktoren hat sich der Sektor zu einem Arbeitnehmermarkt entwickelt. Für Recruiter bedeutet das mehr denn je, die Bedürfnisse und Wünsche der Talente zu verstehen und darauf einzugehen. Künstliche Intelligenz (KI) kann dabei helfen. Wie bereits in vielen Sektoren geschehen, realisiert KI enorme Effizienzgewinne. Besser spät als nie: Nun ist auch die HR-Branche dran. Zur Einordnung des Entwicklungsstands und des Anwendungsgrads der KI-Systeme haben wir das 4-Level-Modell von KI im Recruiting entwickelt.

Dechiffrieren der Talente

Wenn wir die wichtigste Ressource einer Organisation - den Menschen selbst - betrachten, erkennen wir schnell, dass sich Talente nicht mehr nur für eine reine Tätigkeitsbeschreibung interessieren; sondern für Werte und Unternehmenskultur. Studien zeigen, dass die fünf wichtigsten Zufriedenheitsfaktoren im Job rein kultureller Natur sind. Faktoren wie die Beziehung zu Teamkollegen oder auch Weiterbildungsmöglichkeiten sind essentiell und somit ein starkes Differenzierungsmerkmal für Organisationen.

Aber dennoch: Die Unternehmenskultur und die gelebten Werte haben bisher kaum Relevanz auf prominenten Recruiting-Portalen. Eine Stellenausschreibung bietet kaum mehr Informationen als die Angabe des Jobtitels oder eine generische Beschreibung der Tätigkeit.

Vor diesem Hintergrund ist es kaum überraschend, dass 70% aller Arbeitnehmenden in Deutschland aufgrund ihrer Unzufriedenheit über einen Jobwechsel nachdenken. Und das ist nur der Anfang. Prognosen zeigen: Die Gen Z kommt im Laufe ihrer Karriere auf durchschnittlich 20 verschiedene Arbeitgeber.

Wie ist also eine signifikante Steigerung der Mitarbeiterbindung möglich? Wie können individuelle Präferenzen bedient werden? Und insbesondere: Wie gewinnt man Talente im 21. Jahrhundert? Wer sich diesen herausfordernden Fragen stellt, sollte mutig sein. Denn wir haben große Chancen, Talente zu begeistern, zu binden und gemeinsam zu wachsen: durch Künstliche Intelligenz.

KI-Systeme als Game Changer

Heute ist KI in aller Munde, doch die Ursprünge von KI-Systemen liegen rund 80 Jahre in der Vergangenheit: 1956 entsteht der Begriff KI, 1966 wird der erste Chatbot geboren, 1997 schlägt Deep Blue von IBM den Schachweltmeister, 2012 gelingt der Durchbruch im Deep Learning: AlexNet gewinnt nicht nur die ImageNet Challenge, es dominiert sie. Spätestens seit der Kommerzialisierung von ChatGPT durch OpenAI ist KI in aller Munde und wird zum Werkzeug, einfach und für jedermann einsetzbar.

Viele Branchen realisieren signifikante Effizienzsteigerungen dank Künstlicher Intelligenz. Die Fintech-Branche zeigt beispielsweise eine KI-Adoption Rate (also die Integrationsrate von KI-Systemen in Organisationen) von deutlich über 50 Prozent. Der globale KI-Markt in der Automobilbranche wächst mit einer CAGR von 39,8 % bis 2027 auf 15,9 Milliarden US-Dollar. Die Folge dieser erfolgreichen Sektoren: Produktivitätssteigerungen um 60 Prozent und Kosteneinsparungen um 20%.

Die KI-Adoption Rate der HR-Branche befindet sich hingegen dort, wo der Fintech-Sektor bereits vor fast zehn Jahren war. Ein Beispiel im Recruiting: Bis heute zählen Stellenausschreibungen, Karrieremessen oder Weiterempfehlungen zu den Top Recruiting Kanälen. Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Kanäle zumeist fernab vom Einsatz innovativer Technologien arbeiten, ganz zu schweigen von KI-Systemen.

Human Resources und Recruiting sind der Ursprung aller Wertschöpfung in Organisationen. Doch genau da - im Ursprung ökonomischer Wertschöpfung - werden die Potenziale von KI-Systemen nicht einmal ansatzweise ausgeschöpft. Das hat verschiedene Gründe. Unter anderem auch den, dass Automatisierung im Recruiting alles andere als trivial ist. Gerade die Quantifizierung weicher Faktoren wie Unternehmenskultur und Werte ist herausfordernd und unterliegt stetem Wandel und kontinuierlicher Entwicklung.

Die 4 Levels von KI im Recruiting: Eine systematische Einordnung

KI erscheint oftmals wenig greifbar. Diese fehlende Greifbarkeit führt immer wieder zu Unsicherheiten oder gar Ängsten. Um ein realistisches Bild von KI-Systemen und ein klares Verständnis von Entwicklungsstand und Anwendung zu zeigen, haben wir (Empion) die vier Levels von KI im Recruiting entwickelt.

Das 4-Level-Modell ist gewissermaßen eine Hommage an die Klassifizierung der Automobilbranche, also die 5 KI-Levels des Autonomen Fahrens. Ähnlich wie die Finanzbranche, ist die Automobilbranche ein Vorreiter in der Forschung und der Anwendung von KI-Systemen. Denn: Autopiloten oder autonome Parklösungen sind bereits seit einigen Jahren einsatzbereit.

Das 4-Level-Modell von KI im Recruiting spiegelt den technologischen Fortschritt im Recruiting wider, angefangen bei Level 0 (keine Anwendung von KI-Systemen) bis hin zu Level 4 (Autonomes Recruiting). Dazu unterscheiden wir auf drei Dimensionen: Task Coverage (das Aufgabenspektrum), Domain Coverage (das Bewerberprofilspektrum) und Decision Coverage (das Entscheidungsspektrum). Abbildung 1 fasst das 4-Level Modell zusammen.

Level 0: Keine Automatisierung Level 0 hat keine Anwendung von Künstlicher Intelligenz. Ein klassischer Fall wäre zum Beispiel die Personalsuche über eine Karrieremesse, über Weiterempfehlungen oder zumeist auch über klassische Stellenbörsen.

Level 1: Assistiertes Recruiting Im KI-Assistierten Recruiting werden KI-Systeme in einem sehr begrenzten Rahmen unterstützend eingesetzt. Sie übernimmt einzelne Subaufgaben im Recruiting-Prozess für spezifische Bewerberprofile, angeleitet und überwacht durch den Recruiter. Dieser trifft jedoch alle Entscheidungen. Ein Beispiel für Level 1 ist der Einsatz von Large Natural Language Modellen (zum Beispiel ChatGPT) im Active Sourcing (Direktansprache von Kandidaten) oder das Auslesen von Lebensläufen für die Datenpflege im ATS (Bewerbermanagement System).

Level 2: Teilautomatisiertes Recruiting Im teilautomatisierten Recruiting werden einzelne Aufgaben für spezifische Bewerberprofile vollständig von KI übernommen. In diesen klar abgegrenzten Bereichen verfügt die KI auch über Entscheidungskompetenz. Sprich: Sie trifft bestimmte Entscheidungen und leitet einen festgelegten nächsten Schritt im Prozess ein. Zum Beispiel kann KI das Screening von Bewerbenden übernehmen und automatisiert Absagen für unpassende Bewerbende versenden. Der Recruiter kann jederzeit eingreifen, wenn das System es anfordert. Wie in Level 1 trifft der Mensch jedoch weiterhin die Entscheidungen.

Level 3: Automatisiertes Recruiting Im Gegensatz zu Level 2 können die KI-Systeme hier für spezifische Bewerberprofile vollständig allein arbeiten. Das bedeutet, dass sie nicht nur eine, sondern alle Aufgaben im Bewerbungsprozess übernehmen können, z.B. die Bewerbungsausschreibung, die Vorauswahl der Talente, die Kommunikation mit den Bewerbenden und die Vorbereitung auf die Einstellung. In den meisten Szenarien ist keine menschliche Interaktion mehr erforderlich. Jedoch gibt es Einschränkungen. Die Automatisierung ist nämlich auf spezifische Bewerberprofile reduziert (zum Beispiel Controller oder Kundenbetreuer).

Level 4: Autonomes Recruiting In der finalen Stufe, dem autonomen Recruiting, können KI-Systeme alle Aufgabentypen für alle Bewerberprofile vollautomatisiert übernehmen und damit verbundene Entscheidungen treffen. Und das ohne menschliche Interaktionen. Konkret bedeutet das: KI-Systeme sind in der Lage, den gesamten Prozess von der Hiring-Planung bis zum ersten Arbeitstag durchzuführen. Auch in der Mitarbeiterentwicklung können sie entsprechend zum Einsatz kommen.

Bildschirmfoto 2024-01-09 um 09.41.51.png

In der Definition der Levels zeigt sich auch der Unterschied zum 5-Level Modell des Autonomen Fahren: ein zeitkritisches System. Entscheidungen müssen unmittelbar getroffen werden, da es sonst zu einem Unfall kommen kann. Daher ist die Integration von Geschwindigkeit der menschlichen Interaktion als Dimension im Modell deutlich relevanter. Konkret muss unterschieden werden, ob der Fahrer jeden Prozessschritt überwachen muss oder nur auf Standby ist. Recruiting ist vergleichsweise wenig zeitkritisch, denn: E-Mails an Bewerber können zum Beispiel auch fünf Minuten später versendet werden (sollte das KI-System auf eine unbekannte Situation treffen). Daher ist die Unterscheidung zwischen dem Grad der Geschwindigkeit der menschlichen Interaktion für den Einsatz von KI im Recruiting nicht entscheidend.

KI im Recruiting steht noch ganz am Anfang

Die gesellschaftliche Debatte rund um KI-Systeme ist in Deutschland zumeist extrem, hören wir doch immer wieder von Szenarien, die von Machtübernahme durch KI-Systeme philosophieren. Diese Ängste sind keinesfalls neu und zumeist an positive Hype-Wellen durch KI-Systeme gekoppelt.

Doch wie sieht die Realität von KI im Recruiting aus?

Der Einsatz von KI-Systemen im Recruiting steht noch ganz am Anfang. Konkret: zwischen Level 0 und 1. Es ist davon auszugehen, dass viele Organisationen Level 1 bei weitem nicht erreicht haben. Diese Einordnung zeigt das offene Potenzial. Trotzdem können wir jedoch schon heute bedeutende Qualitäts- und Effizienzsteigerungen durch den Einsatz von KI-Systemen im Recruiting zeigen.

Nehmen wir das Beispiel eines Stuttgarter Unternehmens mit 100 Mitarbeitenden, das einen neuen Marketing Manager suchte und dazu mit Empion, einem KI-basierten, automatisierten Headhunting-System (entspricht voll entwickelt Level 3 im Framework), kooperierte. Auf Basis von Skills, Werten und Persönlichkeitsmerkmalen sucht die KI passende Kandidaten auf verschiedenen Online-Kanälen und qualifiziert diese vor. Das Ergebnis? Neun Bewerber, von denen knapp 70 Prozent für den Interviewprozess qualifiziert sind und daraus eine Einstellung entsteht. Eine große Entlastung für die HR-Abteilung, lag die Interviewquote zuvor bei nur acht Prozent. Bemerkenswert auch: Der Cost per Hire sank um 45 Prozent, die Time to Hire reduzierte sich von 68 auf 21 Tage. Ein großer Erfolg für den Einsatz von KI-Systemen im Recruiting.

Der verantwortungsbewusste Umgang

So groß die Effizienzen durch KI-Systeme schon heute sind, so chancenreich scheint eine aufregende technologische Zukunft. Auf diese dürfen wir mit Vorfreude blicken. Doch das erfordert einen verantwortungsbewussten Umgang mit seriösen, diskriminierungsfreien KI-Systemen. KI-Systeme erlauben datengetriebene Entscheidungen, die mit höchster Priorität frei von Bias und systematischen Fehlern sein müssen. Der verantwortungsbewusste Umgang ist nicht nur eine Pflicht, sondern vor allem eine gesellschaftliche Verantwortung, insbesondere für Organisationen, die damit wirtschaftliche Gewinne erzielen. Gleichzeitig ist aber auch die Eigenverantwortung eines Jeden gefragter denn je, ist die neue Technologie doch keinesfalls unfehlbar. Auf dem Weg zur normativen Technologie dürfen KI-Systeme nicht mit dem gleichgesetzt werden, was wir aus einer Tech-Zeit vor KI-Systemen kannten. Aktuell müssen wir also KI-Systeme hinterfragen, wie wir auch die Meinung eines Menschen kritisch hinterfragen würden. Das ist nicht unbedingt intuitiv und birgt damit Gefahren von unbemerkten Unwahrheiten, Diskriminierung und Rassismus.

Daher gilt: KI-Systeme müssen so nachvollziehbar und transparent wie möglich gestaltet sein, um jederzeit für eine kritische Prüfung zugänglich zu sein. Entsprechende Rahmenbedingungen und Regularien können technologisch abgebildet werden. Tools und Frameworks wie Explainable AI, Trustworthy AI oder Responsible AI ermöglichen die Einbindung ethischer Richtlinien, definierter Zielwerte, Bias-Mitigation oder Uncertainty-Mechanismen. Auf diese Weise können wir KI-Systeme sogar nutzen, um reale Diskriminierung durch den Menschen aufzudecken und dieser entgegenzuwirken: eine große Chance.

Eine neue Ära: KI im Recruiting

Richtig eingesetzt, sind KI-Systeme vor allem eines: die größte Chance, die wir in diesem Jahrhundert im Recruiting zu haben scheinen. Die 4 Levels von KI im Recruiting sollen dabei unterstützen, Forschung und Anwendung zu veranschaulichen und auszurichten. Vor allem sollen sie ermutigen. Denn zweierlei soll hier deutlich werden:

Erstens stehen wir mit dem Einsatz von KI-Systemen im Recruiting noch ganz am Anfang. Das gibt uns die Möglichkeit, KI-Systeme so zu entwickeln, dass unsere Ängste überflüssig und damit verbundene technologische Ursachen kontrollierbar sind.

Zweitens zeigt selbst der heutige Einsatz von KI-Systemen im Recruiting bereits massive Verbesserungen und ermutigt zu einem chancenreichen Blick in die Zukunft.

Wir müssen den Potenzialen von KI-Systemen offen und mutig gegenübertreten. Künstliche Intelligenz ermöglicht uns massive Qualitäts- und Effizienzgewinne und wir dürfen sehr optimistisch und vorfreudig in eine aufregende technologische Zukunft blicken – insbesondere im Recruiting.